Nassauer: Lieber Nabil, herzlich willkommen zur neuen Saison 2020 / 21 – Deiner
zweiten als Chefdirigent –, die aufgrund der Pandemie nun ganz außergewöhnliche
Herausforderungen mit sich bringt. Wie hast Du denn Deine erste Saison bei
der Philharmonie Südwestfalen empfunden?
Shehata: Meine erste Saison mit der Philharmonie Südwestfalen ist sehr
gut gestartet, wir hatten tolle Konzerterlebnisse und die Menschen in Siegen
haben mich herzlich aufgenommen.
Wenn ich nur an Beethovens 9. Sinfonie mit dem großartigen WDR-Rundfunkchor
zurückdenke, ein unvergessliches Erlebnis. Leider ist die Saison vorzeitig
abrupt durch das Corona-Virus abgebrochen worden und ab März waren wir
dann nur noch mit Krisenmanagement beschäftigt. Glücklicherweise durften
wir doch noch einen versöhnlichen Saisonabschluss im Apollo genießen. Ich
versuche, die positiven und schönen Momente im Kopf zu behalten und sie
als Inspiration mit in die nächste Spielzeit zu nehmen.
Nassauer: Ein gutes Stichwort: unsere neue Saison. Sie war fertig geplant und
dann mussten wir erleben, dass ein Virus unsere vielfältigen Pläne durchkreuzt.
Wie hast Du die ersten Monate nach dem Ausbruch von Corona empfunden? Und
wie erlebst Du die Gegenwart, fehlt den Menschen das lebendige Konzerterlebnis?
Shehata: Die ersten Monate waren hart, so ging es wahrscheinlich den meisten
Menschen in den unterschiedlichsten Berufen. Nicht nur, dass das Virus
unsere Pläne durchkreuzt hat, es hat uns viele Freiheiten und Lebensqualität
genommen, und zwar nicht nur uns im Kulturbetrieb.
Nicht zu wissen wie es weitergeht, was als Nächstes geschieht und vor allem,
wie lange wir noch mit diesem Zustand leben müssen, empfinde ich immer
noch als die größte Herausforderung.
Darum bin ich sehr glücklich, dass der Spielbetrieb langsam wieder startet.
Die Menschen gewinnen wieder mehr Vertrauen in die Konzertsäle und aus
den Gesprächen und Zuschriften erfahre ich, wie sehr das Live-Konzert den
Menschen gefehlt hat.
Nassauer: Ich denke, das Vertrauen ist ein sehr entscheidender Punkt. Wir beachten
die (Hygiene-)Vorschriften und Verordnungen, um unser Publikum und
uns selber zu schützen. Wenn man nun auch im Orchester die Abstände wahrt:
Wie groß ist der Einfluss auf die Probenarbeit ? Und ich finde es auch sehr wichtig,
dass wir im Falle von notwendigen Programmänderungen immer auf die Qualität
der Werke achten. Ein Konzert der Philharmonie soll auch in diesen harten Zeiten
ein besonderes Erlebnis sein.
Shehata: Die Abstände im Orchester einzuhalten birgt große Probleme in
sich. Die Musiker sitzen sehr breit gefächert und haben Schwierigkeiten, sich
gegenseitig zu hören (Abstand: Streicher und Schlagzeug 1,50 m; Bläser 2 m.
Stand der Verordnung 1. 9. 2020). Die Kontaktaufnahme zwischen den verschiedenen
Gruppen ist schwer hinzubekommen. Die Aufgabe des Dirigenten
wird hierdurch verändert, da es jetzt bei der Probenarbeit nicht mehr verstärkt
um rein musikalisch stilistische Aspekte geht, sondern zunächst vorrangig um
das Zusammenspiel.
Es ist eine große Herausforderung, die jedoch auch eine gute Schule ist. Bei
den Programmen können sich die Konzertbesucher gewiss sein, im Falle einer
Reduzierung der Musiker wählen wir stets Programme, die inhaltlich den
vorher geplanten in nichts nachstehen.
Nassauer: Kultur muss sich in diesen Zeiten bewähren. Ich bin überzeugt davon,
dass den Menschen unser gewohntes Angebot fehlt, diese breite Konzertpalette
vom Sinfoniekonzert über die Educationprogramme bis hin zur Filmmusik. Aber auch das Drumherum: die Wahl der Kleidung für den Abend, das Treffen von Menschen
im Foyer, der Genuss der Musik, das Nachwirken der Emotionen. Vielleicht
auch der rege Austausch nachher im Bistro des Theaters … Kultur ergänzt unser
Leben nachhaltig und ist für unsere Gesellschaft essenziell. Werden wir all das in
Zukunft auch weiter behalten oder zerstört ein Virus etwas, was sich über viele
Jahrhunderte entwickelt hat?
Shehata: Ich bin von Grund auf ein optimistischer Mensch. Deshalb glaube
ich nicht, dass das Corona-Virus unser Kulturleben, wie wir es kennen, zerstören
wird. Ganz im Gegenteil: nach so einer Pandemie wird der Hunger auf
Live-Musik immens sein. Deswegen darf jetzt im Moment nicht der Rotstift
angesetzt werden.
Nassauer: Oh ja, das wäre fatal. Ich bin sehr dankbar, dass wir in den letzten
Jahren sowohl hier in der Heimat durch den Kreis Siegen-Wittgenstein als auch
überregional vom Land Nordrhein-Westfalen und dem LWL so konstant gefördert
wurden. Wir sind darauf angewiesen ! Das wäre auch einer meiner zentralen Wünsche
für das kommende Jahr: weiterhin die nötige Hilfe und auch unsere Freundschaften,
sei es in der Stiftung oder dem Förderverein, bei der Sparkasse Siegen
oder der Krombacher Brauerei und allen weiteren Gönnern erhalten zu können.
Und ich hoffe natürlich darauf, dass wir die Pandemie baldmöglichst in den Griff
bekommen. Was steht bei Dir oben auf der Liste der Wünsche?
Shehata: Schwer zu sagen, für Wünsche muss man auch arbeiten, so sehe
ich das. Ich hoffe, dass die Menschen besonders in schwierigen Zeiten, wie
wir sie gerade durchleben, zusammenhalten und sich verantwortungsbewusst
zeigen. Mein Wunsch ist es, dass wir aus der Krise lernen, wie wichtig das
Zwischenmenschliche gerade in unserer digitalen Welt doch wirklich ist.
Nassauer: Dem schließe ich mich an. Hoffen wir das Beste und lassʼ uns Musik
für unser Publikum machen !